Februar 2019: Fluchtberichte vor Gymnasiasten
Text und Fotos: Rudolf Thomann
Ich möchte Geld verdienen, damit ich Menschen helfen kann
- Zeitzeugen schilderten Fluchterlebnisse vor Löninger Gymnasiasten -
Einen tiefen Eindruck bei über 200 Schülerinnen und Schülern der Klassen 10 und 12 des Löninger Copernicus-Gymnasiums hinterließen Berichte von zwei Zeitzeugen über ihre Flucht aus ihrer Heimat. Barbara Tönnies erzählte von der Flucht ihrer Familie aus Schlesien am Ende des 2. Weltkriegs, der 17-jährige Murtaza Sediqi, Schüler der 11. Klasse am Gymnasium, von der Flucht seiner Familie aus Afghanistan im Jahre 2015. Organisiert worden war diese Veranstaltung vom Aktionskreis „Flüchtlingshilfe Löningen“, der seit 2016 die Flüchtlinge in Löningen unterstützt, in Zusammenarbeit mit Fachgruppe Geschichte des Gymnasiums.
Bericht von Barbara Tönnies
Barbara Tönnies, geboren 1941 nicht weit entfernt vom damaligen Breslau, war zu klein, um direkte Erinnerungen an die Flucht 1945 zu haben. Ihre Mutter und ihr sechs Jahre älterer Bruder haben ihr jedoch von den Geschehnissen auf der Flucht erzählt. „Als ich 70 Jahre alt wurde, haben mich meine Kinder gedrängt, alles für die Nachwelt aufzuschreiben. So ist ein Buch über meine Geschichte entstanden, das allerdings mittlerweile vergriffen ist“, berichtet Barbara Tönnies.
Im Februar 1945, einem bitterkalten und schneereichen Monat, rückten die russischen Truppen immer weiter nach Westen vor. So musste die Mutter mit den zwei Kindern alles zurücklassen, um mit dem Nötigsten versehen die Flucht anzutreten. „Mein Vater war als Fachmann für Schweißtechnik unabkömmlich und wurde nicht als Soldat eingezogen. Er konnte nicht mitkommen, versprach aber, so schnell wie möglich nachzukommen. Wir haben ihn nie wiedergesehen!“ Trotz jahrelanger Nachforschungen konnte sein Schicksal nie geklärt werden.
Kurzzeitig konnten die Vertriebenen sogar wieder in ihren Heimatort zurückkehren, der allerdings in der Zwischenzeit von Polen vereinnahmt worden war, die ebenfalls aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. „Diese Zeit war von großen Entbehrungen geprägt“, so Barbara Tönnies, „um an etwas Fleisch zu kommen, baute mein Bruder mit seinen Freunden Fallen. Kein Tier war vor ihnen sicher. Es war egal, ob Hund, Katze, Kaninchen oder Vogel; alles war eine willkommene Beute.“ Im Juli 1946 musste die Familie erneut mit Handwagen und Ackerwagen fliehen. Jetzt ging es um das nackte Leben: Pferde fielen vor Schwäche um, Menschen, die nicht mehr laufen konnten, mussten zurückgelassen werden, Tote wurden einfach am Wegesrand abgelegt. Wenige Tage später wurden die Flüchtlinge in einem Viehwaggon Richtung Westen gebracht. Auch hier starben immer wieder Menschen. „Wohin diese leblosen Körper kamen, weiß niemand. Wahrscheinlich wurden sie in einem Massengrab verscharrt“, berichtet Barbara Tönnies. Die Fahrt endete nach drei Tagen über Osnabrück schließlich in Löningen. Auf einem Bauernhof in Vehrensande wurde die Mutter mit ihren beiden Kindern einquartiert. Die Familie fand hier eine gute Aufnahme. Die Kinder konnten zur Schule gehen, die Mutter arbeitete auf verschiedenen Bauernhöfen. Eine besondere Begegnung schilderte Barbara Tönnies: „Einige Tage nach unserer Ankunft stand am Zaun ein kleines blondes Mädchen, das wohl unser Ankommen beobachtet hatte. Helga, so hieß sie, schenkte mir einen dicken Apfel. Wir konnten uns nur schlecht verständigen: Helga sprach nur Plattdeutsch, ich nur Hochdeutsch. Trotzdem ist daraus eine lebenslange Freundschaft geworden.“
Am Schluss der Veranstaltung machte Barbara Tönnies ihre Empfindungen deutlich. „Egal, woher man geflüchtet ist, wo man angekommen ist und wie man hier aufgenommen worden ist; immer ist da das Gefühl, die Heimat verloren zu haben. Und das Gefühl wird immer bleiben.“ Zahlreiche Fragen der Schülerinnen und Schüler zeigten, dass sie durch diese unmittelbare Begegnung mit der Zeitgeschichte tief berührt waren.
Bericht von Murtaza Sediqi
Die Schule hatte ihren Schüler Murtaza Sediqi gewinnen können, als Gegenpol zu den Fluchterlebnissen 1945/46 über seine Flucht aus der afghanischen Hauptstadt Kabul im Jahre 2015 zu berichten. Obwohl er in seiner Heimat als Sprachunterricht lediglich in Englisch unterrichtet worden war und bei seiner Ankunft in Deutschland deshalb keine Deutschkenntnisse hatte, trug er seine Erlebnisse in fast fehlerfreiem Deutsch vor. Nach einem Besuch der Löninger Hauptschule mit intensivem Sprachunterricht war er direkt auf das Copernicus-Gymnasium gewechselt.
Seine Familie, die Mutter Lehrerin, der Vater Angestellter im Verkehrsministerium und die damals sechsjährige Schwester hatten das Land verlassen, da die Sicherheitslage sich immer kritischer entwickelte und sie immer öfter bedroht wurden. „Wir haben unser gesamtes Hab und Gut verkauft, um Geld für unsere Flucht zu bekommen“, berichtete Murtaza. Deswegen mussten sie auch nicht den mehrwöchigen beschwerlichen Weg quer durch Afghanistan, den Iran und die Türkei nehmen wie viele andere Flüchtlinge, sondern konnten direkt nach Istanbul fliegen. Dort mussten sie sich auf die Suche nach Schleusern machen.
Schließlich wurden sie an die türkische Küste beordert, wo angeblich ein großes Boot für die Überquerung der Ägäis auf sie warten sollte. „Dieses Boot entpuppte sich als ein Schlauchboot, das eigentlich nur für sechs Personen zugelassen war. 32 Personen wurden auf das Boot gequetscht. Beschwerden waren zwecklos, die Schleuser waren schließlich bewaffnet“, schilderte Murtaza die Situation. Glücklicherweise war die See auf der Überfahrt ruhig. Trotzdem lag das Boot natürlich viel zu tief im Meer, so dass immer wieder Wasser ins Boot schwappte. Mit Tüten wurde versucht, das Wasser zurück zu befördern. „Schließlich haben wir alles Gepäck ins Meer geworfen, um das Boot zu entlasten. Nach dieser lebensgefährlichen Überfahrt sind wir so an einer griechischen Insel angekommen, wo viele Helfer uns versorgten. Zahlreiche Menschen sind ja im gesamten Mittelmeer bei solchen Überfahrten gestorben, in den letzten fünf Jahren im Durchschnitt über 3000 Menschen“, berichtete der afghanische Schüler.
Von Griechenland aus konnten sie im Gegensatz zu vielen anderen Flüchtlingen relativ gefahrlos den Weg nach Deutschland nehmen. Die erste Station war Köln, dann folgten Braunschweig, Bielefeld und die Flüchtlingsaufnahmestelle Bramsche, von wo die Familie im Februar 2016 nach Löningen gebracht wurde.
Bei diesem Vortrag war das Interesse der Schülerinnen und Schüler natürlich besonders groß, da hier ein Mitschüler der eigenen Schule seine Erlebnisse schilderte. Als die größten Schwierigkeiten auf dem Fluchtweg beschrieb Murtaza die immerwährende Angst, die Kälte und die Sorgen, ob die Grenzen offen bleiben sowie die psychischen Belastungen besonders seiner Mutter, bedingt durch den Verlust ihrer Heimat.
Auf die Frage nach dem späteren Berufswunsch gab er eine bemerkenswerte Antwort: „Mein Traum ist Ingenieur; das kann sich aber noch ändern. Da sich meine Eltern immer um ihre Mitmenschen gekümmert haben, möchte ich das auch so tun. Ich möchte Geld verdienen, um anderen Menschen helfen zu können.“
Der Vertreter der Fachgruppe Geschichte am Copernicus-Gymnasium, Ansgar Pelster, bedankte sich herzlich bei den beiden Referenten für ihre berührenden Schilderungen und überreichte ihnen ein Präsent.
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